Yoga und Identität

Eine der zentralen klassischen Yoga-Themen ist die sogenannte „Vicara-Frage“: Die Frage „Wer bin ich?“, die Frage nach der eigenen Identität.

Im Yoga ist immer wieder auch vom sogenannten „Selbst“ die Rede. Und gelegentlich wird man als Yogalehrer natürlich um eine Begriffserklärung gebeten.

Yoga eine Methode

Vorab ein Hinweis: Yoga ist in erster Linie eine Methode (der Entspannung oder stärker: der inneren Loslösung und Meditation). Yoga ist im

OM des Yoga in Devanagari
OM in Devanagari

alten Indien in philosophischer Hinsicht weniger eine Weltanschauung als ein möglicher Weg zur Erkenntnis. Aber natürlich können sich im Laufe der Jahre des Yoga-Übens neue Betrachtungsweisen einstellen. Und man darf davon ausgehen, dass eine Methode wie Yoga sich nicht zufällig vor dem Hintergrund alter indischer (Welt-) Betrachtungsweisen entfaltet hat.

Aber natürlich rührt eine so tiefgreifende Entspannungsmethode wie Yoga auch an ersten Fragen. Denn wer tiefe Entspannung erlebt, wer von äußeren Gegebenheiten sich loslöst, wer also ganz vom äußeren Betrieb abschaltet, der rührt am Urgrund des eigenen (Er-) Lebens. Und so ziemlich am Anfang des Lebens steht die Frage nach dem „Ich“ und der eigenen Identität.

Atman, Brahman oder Puruşa

Yogins erlebten sich in den tausenden von Jahren der Yoga-Geschichte wie wir alle: Als Mensch mit zwei Armen und zwei Beinen, mit Wünschen und Bedürfnissen und mit all den Widrigkeiten und Freuden, die das Leben so bietet. Und als Yogins erlebten sie sich auch zeitweise völlig unberührt von der Welt, als Eins und verschmolzen mit einem unsterblichen und eigentlichen Wesensgrund im Menschen. Sie nannten es das Selbst, Atman, Brahman oder Puruşa oder einfach „ICH“.

Man kann das als Überhöhung oder Illusion, als Einbildung oder gar als Wahn abtun. Es gibt in der Tat Menschen, die Täuschungen über ihre Identität unterliegen. Bestes Beispiel dafür ist das Jerusalem-Syndrom (s. Link oben). Menschen halten sich für Jesus, Petrus, Maria oder eine der vielen anderen biblischen Gestalten. In Jerusalem werden gemäß dem angeführten Zeitungsartikel jedes Jahr etwa 200 Personen mit entsprechenden Wahnvorstellungen klinisch betreut. Yoga bezeichnet so etwas als Viparyaya (verkehrte Wahrnehmung) oder Vikalpa (Einbildung).

Yoga und Maya

Die Frage ist, ob deshalb jegliche Wahrnehmung, die auf eine Überschreitung der sichtbaren Welt hinausläuft, deshalb auf Täuschung oder Wahn beruht. Der Begriff „Maya“ als Bezeichnung für die Welt und den Kosmos um uns herum ist nicht nur mit dem Wort „Materie“ verwandt, sondern beinhaltet auch die Bedeutung der Täuschung und Illusion des ganzen Weltenspiels.

Yoga heißt es dann, Viveka zu üben: Die Kunst der Unterscheidung. Was ist Täuschung, was ist Einbildung, was ist Wissen? Das ist eine Frage für jeden Menschen. Mehr als es uns vielleicht die heutigen Wissenschaften zugestehen wollen hebt so eine Methode wie Yoga dann auf unmittelbare Erfahrung ab: Wir können die Antworten in uns erleben, in uns erfahren. Denn alles Wissen dieser Welt ist in uns selbst erfahrbar. Erst recht die Frage nach dem eigenen Wesensgrund, die Vicara-Frage

In guter alter Yoga-Tradition möchte ich daher die Frage offen lassen. Es geht nicht darum, Antworten im Yoga geliefert zu bekommen. Es geht darum, sich auf neue Fragen und eigene Erfahrungen einzulassen. Und vielleicht geht es darum, naturwissenschaftliche Erkenntnismöglichkeiten nicht als einzige Quelle des Wissens zu erfahren.

SMS von Jesus – über das Jeruasalem-Syndrom

Wie man sich selbst auf den Leim geht