(Yoga-)Kunst entsteht aus Mangel

Die Freundschaft von Winston Churchill und Charles Chaplin

Wenn ich an dieser Stelle aus einem Roman über die Freundschaft zwischen Winston Churchill und Charles Chaplin zitiere, so dehalb, weil Charles Chaplin dabei ein sehr schöner Satz in den Mund gelegt wird, den man im Yoga so für die ganze menschliche Existenz formulieren würde (vielleicht hat Chaplin ihn ja auch wirklich gesagt).

Es heißt da auf S. 106: „Chaplin besuchte den Freund über eine Woche lang täglich und jedes Mal blieb er mehrere Stunden. Churchill malte ein Porträt von ihm. Der Linkshänder malte mit der rechten Hand, weil seine linke von dem Unfall beeinträchtigt war. Chaplin meinte, auf die Weise entstehe wahre Kunst, nämlich aus dem Mangel, und urteilte, das Ergebnis sei „schrecklich schön“.“
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Chaplin formuliert hier die menschliche Qualität des Menschen schlechthin. Solange der Mensch mit seinen mitgebrachten Talenten zurechtkommt und seine Gesundheit auch einigermaßen mitspielt, solange wird er wohl auch nur von seinen normalen Kräften und Möglichkeiten Gebrauch machen. Gerät er aber in eine Notlage oder erlebt er dauernden Mangel, bricht der Mensch gelegentlich, einzeln oder auch als Kollektiv und Gemeinschaft zu neuen Ufern auf. Der eine oder andere mag auch manchmal daran verzweifeln. Immer aber suchen wir Menschen dann nach Auswegen und sind in oftmals erst aus Notlagen bereit, uns auf Neues einzulassen.

Erfindung des Computers: ein Beispiel

Die Erfindung des Computers liefert hierfür ein Besipiel: Konrad Zuse war Statiker und Bauingenieur und musste Kolonnen von Zahlen durchrechnen und für seine Arbeit zu Papier bringen. Und man kann sich ausmalen, wie bei einer Planungsänderung des Gebäudes die Rechnerei wieder von vorn beginnen musste. Irgendwann hat Zuse sich dann eine Rechenmaschine konstruiert und baute daraus später mit der Z3 den ersten programmgesteuerten und programmierbaren Computer der Welt.

Die Erzeugung von Strom aus Windkraft und Sonne wurde lange belächelt. Aber der drohende Klimawandel und steigende Erdölpreise machten die Leute erfinderisch. Mindestens technisch scheint auch eine völlige Abkehr von fossilen Brennstoffen und Kernkraft mittlerweile möglich zu sein.

Graf Sandwich, 4. Earl of Sandwich, war es angeblich Leid, als leidenschaftlicher Kartenspieler ständig durch das Einnehmen von Mahlzeiten unterbrochen zu werden. Daher ließe er sich während seines Spiels Nahrung in einfacher und zeitsparender Form reichen – und so entstand das Sandwich.

Die Geschichte der zwei Frösche

Durch pränatale Diagnostik von Eizellen hoffen einige Wissenschaftler soll es möglich werden, diejenigen mit den besten Genen herauszusuchen. Eines sollten wir bei allen möglichen Erfolgen dieser Technik nicht übersehen. Selbst wenn wir die besten Gene heraussortieren, selbst wenn die Eizellen bis an die Grenzen der Biologie optimiert werden, selbst wenn wir biologisch für beste Vorraussetzungen sorgen, selbst dann gelangt ein Mensch irgendwann an die Grenzen seiner Kraft und Intelligenz. Spätestens mit dem Alter sind die mitgebrachten Möglichkeiten zu Ende. Und dann erst wird es aus Yogasicht interessant für den Menschen. Denn dann erst sind wir bereit, unsere inneren, spirituellen Möglichkeiten zu entdecken. Solange wir uns auf Technik und Fortschritt verlassen, solange sind wir nicht in der Not, das Geheimnis Mensch in uns zu ergründen.

Ob diejenigen immer die Glücklicheren sind, die die Grenzen mitgebrachter Möglichkeiten erst spät erfahren, darf man deshalb in Frage stellen. Hans-Ulrich Rieker, einer der ersten deutschen Yogalehrer, zitierte in diesem Zusammenhang einen Vater, dessen Sohn aus Unwohlsein seine Hausaufgaben nicht machen wollte: „Merke dir, mein Junge, alle großen Werke der Menschheit sind von Leuten geleistet worden, die sich gerade nicht recht wohl fühlten.“

Selvarajan Yesudian erzählt in diesem Zusammenhang die Geschichte der beiden Frösche, die in den Milchtopf fallen. Beide finden keinen Grund, um sich abzustoßen und herauszukommen. Der eine gibt nach einiger Zeit auf. Der andere strampelt immmer weiter. Und am Ende bildet sich durch das verzweifelte Gepatsche Butter, und am ersten Butterklumpen stößt der Frosch sich heraus aus in die Freiheit.

Vision und Meditation – Nididhyasana

Yoga weist darauf hin, dass die eigentlichen spirituellen Kräfte und Möglichkeiten der Erneuerung in uns selbst und zuallererst im Atem zu finden sind. Was letzten Endes bedeuten könnte, dass der Mensch die Königsmöglichkeiten seiner Natur auf der meditativen Seite seines Wesens entdeckt. Vision, visionäre Kraft, auch Erfindergeist, könnten dem Menschen aus Yogasicht vielleicht auf nichtmateriellen Ebenen des Bewusstseins zuwachsen. Ob bei uns Menschen immaterielle, also jenseits der neurologisch-biologischen Vorgänge vorhanden Ebenen des Bewusstseins existieren, mag aus wissenschaftlicher Sicht fragwürdig sein. Der alte indische Yoga behauptet jedenfalls, sie seien die eigentliche Grundlage der menschlichen Existenz. Gebrauch von ihnen machen versuchen wir jedoch meist erst, wenn unsere anderen Möglichkeiten zu Ende gehen. Auf das Ende unserer Alltagsmöglichkeiten folgt Nididhyasana – die Vision aus Meditation und Entspannung.