Yoga, der Berg und Ich

Yoga heißt, Berg und Ich sind in dir.

„Wir gehen zum Schamanen, wenn wir krank sind. Auch vor Reisen oder einer Bergexpedition besucht man seinen Haus-Lama oder einen Lama im Kloster. Der bestimmt dann nach einem Horoskop, ob die Umstände für die Expedition glücklich sind oder nicht.“
Oliver Schulz DIE ZEIT Nº 22/27.5.2013

Haben Sie vor Ihrem letzten Urlaub Ihren Haus-Schamanen gefragt, ob Sie diesmal nach Indien
oder in die Südsee reisen?

Der Watzmann am Königssee

Oder doch, und ökologisch dann korrekter, mit der Bahn nach Italien?

Es gab und gibt in der christlichen und in der vorchristlichen Kultur Europas sicher entsprechende Rituale. In katholischen Gegenden wurde vor Reisebeginn vielleicht Christophorus, der Schutzheilige der Seeleute und Reisenden, um Hilfe gebeten. Die Römer fragten, insbesondere vor einem Feldzug, ihre Götter durch priesterliche Beobachtung des Vogelflugs oder durch einen Tieropferritus um Rat. Aber in naturwissenschaftlich geprägten Zeiten ist das wohl eher ein belächelter Aberglaube geworden.

Napoleon fiel vor dem Russlandfeldzug vom Pferd

Napoleon fiel am Tag vor Beginn seines Russlandfeldzuges an der Beresina vom Pferd. Wären sie Römer, kommentierten seine Offiziere sinngemäß, würden sie jetzt heimreiten (Nachzulesen in Eckart Kleßmann, Napoleons Russlandfeldzug in Augenzeugenberichten 1964).
Anders unsere moderne Zeit: sie ist geprägt durch das technisch Machbare: Was erreichbar ist, holt man sich. Und wenn man selbst Skrupel hat, holen es sich eben Andere. So beschreibt auch die oben zitierte Buddhi Maya Sherpa das Verhalten der Westler, wenn Sie zum Bergsteigen in den Himalaja kommen. Wir trainieren und bringen beste Ausrüstung mit, und dann gehen wir auf den Berg. Ohne den Berg um Erlaubnis zu fragen. Warum sollten wir auch? Unter dem Strich heißt das: Wir nehmen da etwas in Besitz. Natürlich nicht in dem Sinne, dass wir hinterher zum Notar gehen und einen Grundbucheintrag vornehmen. Aber als Erlebnis gehört der Berg oder die Landschaft fortan uns.

Yoga sieht eine Bezeihung zwischen dem Betrachter und den Dingen

Wir betrachten die Welt als unbelebt. Wir haben ja Schwierigkeiten, Tieren so etwas wie eine Seele zuzugestehen. Wie sollte dann eine Blume, ein See, ein Berg oder gar eine Höhle wie bei den Sherpas eine Wesenheit sein? Da ist die Welt, und da bin ich, und beides existiert ohne Bezug nebeneinander im Sinne von unabhängigen Gegenständen. Yoga aber heißt, die Beziehung zu beidem, den Dingen und ihrem Betrachter, zu erkennen. Und dann ist beides plötzlich beseelt. Der Berg und ich.

Yoga ist der Versuch eines achtsamen Umgang mit der eigenen Lebenskraft

Yoga ist der Versuch eines achtsamen Umgangs mit der eigenen Lebenskraft. Es geht nicht darum, wissenschaftliche Betrachtungsweisen zu verwerfen. Es geht eher darum, auch andere Betrachtungsweisen wieder mit ins Spiel zu bringen. Ob wir wie die Sherpas oder die alten Griechen jeden Ort als beseelt betrachten sollten, sei dahingestellt. Aber zu lernen, in der eigenen Lebenskraft mehr als nur biologisch-physikalische Aspekte zu entdecken, könnte eine andere mentale Ordnung auf den Weg bringen. In der wir dann allerdings nicht mehr etwas einfach in Besitz nehmen, sondern im Gegenteil etwas überlassen.

Stellen Sie einmal die Frage neu: Gehört die Lebenskraft uns, oder gehören wir der Lebenskraft? Und wem gehört dann der Berg?