Übung und Loslösung

Übung (= abhyasa) heißt nicht unbedingt machen

In unserer Kultur haben wir bestimmte Vorstellungen davon, wie wir etwas erreichen können, wenn wir Erfolge erzielen wollen. Wenn wir den z.B. den Körper stärken wollen, glauben wir das entweder dadurch zu erreichen, dass wir uns bestimmte Stoffe zuführen. Oder dass wir mit speziellen Übungen etwas „machen“ und dadurch eine direkte und beabsichtigte Wirkung erzielen.
Yoga-Übungen sind da von vorne herein anders angelegt. Natürlich gibt es das Prinzip Übung auch und gerade im Yoga. Aber im Yoga heißt Übung nicht unbedingt „machen, sondern meint das Gegenteil davon. Üben heißt nicht, eine bestimmte Wirkung erzielen, sondern üben kann heißen, sich von Absichten frei machen. Denn im Yoga gesellt sich dem Übungsprinzip, abhyasa, von vorneherein ein anderes

Prinzip dazu: vairagya, Loslösung. Wer (Selbst-) Beherrschung im Sinne des Yoga lernen will, der wird in den Yogasutras auf diese beiden Prinzipien verwiesen (Yogasutras des Patanjali, I,12).
Was mit Übung und Körperübung direkt erreicht werden kann, versucht unsere westliche Kultur zu erforschen und zu ergründen. Sport und Sportwissenschaft können dabei sicher einiges an Erkenntnis liefern. Doch das eigentliche im Yoga geschieht, wenn wir auf das „Machen“ verzichten. Die Übungen sind eher dazu da, günstige Gelegenheiten dafür zu schaffen, sich von allem „Wollen“ und „zweckgerichteten Denken“ zu lösen. Übungen schaffen günstige Gelegenheiten, so etwas wie innere Loslösung zu erleben. Das gilt in Stuttgart, Europa, Indien oder wo immer wir uns gerade aufhalten. Machen kann man das nicht. Versuchen Sie einmal, „schlafen“ zu machen. Das geht fast nicht. Aber jeder von uns kennt Möglichkeiten, wie er günstige Umstände schafft, das Einschlafen zu erleichtern: eine gute Matratze, ein ruhiger Schlafplatz, die richtige Decke. V.a. aber gehört die Gunst der Stunde dazu: es geht nicht immer, wir sollten schon auch müde sein.
Yogaübungen schaffen günstige Gelegenheiten, um sich von störenden äußeren Umständen und inneren Gedanken zu lösen. Aber auch hier gilt: Loslösung machen kann man nicht. Man kann sich aber immer wieder der Loslösung neu anbieten. Man kann günstige Gelegenheiten dafür schaffen. Asanas z.B., die bekannten Körperhaltungen, schaffen solche Gelegenheiten. Aber der Wille und die beste Absicht können dabei hinderlich sein. Denn gerade das zweckgebunde Denken verhindert manchmal, das sich Lösungen z.B. im Sinne von Entspannung ergeben. Übung heißt dann, geduldig weiterzuüben. Denn mit der Zeit erschöpft sich auch dieses zweckgebunde Denken, und dann ändert sich der Charakter der Übung plötzlich. Und vielleicht erleben wir uns und die Übung dann ganz anders.

Bild: Till Eulenspiegel – der Narr stellt die gängige Weltsicht in Frage