Lebenskraft spielt Yoga 1

Yoga-Darśana

Ein Aspekt der Yogaausbildung wurde von meinem Yogalehrer immer wieder herausgestellt. Ein Aspekt, dem innerhalb der Bildung und Ausbildung meines eigenen, also des westlichen Kulturkreises, in keiner Disziplin eine annähernd große Bedeutung zukommt. Yoga und verwandte östliche Meditationsmethoden betonen die Bedeutung von Darśana, der Weltbetrachtung. Yogins betonen, wie sehr unser Leben und unser Erleben der Welt ihrer Meinung nach durch unseren Blickwinkel, durch die Brille, mit der wir die Welt betrachten, geprägt wird.

Yogins sagen gelegentlich, dass wir weder die Welt noch uns selbst nachhaltig verändern können. Das einzige, was wir ändern könnten, wäre unsere Betrachtungsweise. Und sie formulieren im selben Atemzug, das durch die Änderung der Betrachtungsweise alles sich ändern könnte, sogar die Welt.

Yoga-Übungen, angefangen bei den bekannten Āsanas, könnten uns sagen die alten Inder helfen, zu versuchen, mit Lebenskraft aufmerksamer umzugehen. Haben wir lange genug und ausdauernd geübt, erschließt sich uns über die Übungen das weite Feld der Meditation. In  günstigen Momenten erleben wir eine tiefe Ruhe des Geistes. Wer achtsam ist, erlebt mit der Zeit auch: Die Ruhe des Geistes ändert auch unsere Einstellung gegenüber äußeren Geschehnissen. Ein Beispiel: bhunamāsana ist im Yoga die Haltung zu Erde. Für den Yogin wird „Erde“ mit der Zeit in erster Linie die Wahrnehmung einer inneren Energie sein. Und davon abgeleitet und in zweiter Linie wird Erde eine sinnlich-physische Wahrnehmung äußerer Objekte darstellen. Es ändert sich die Reihenfolge Außen-Innen.

Der Kyodomeister sagt: Die Dinge spielen mit dem Kinde

Dazu noch ein Zitat eines Kyodo- Meisters: „Sie müssen“, erwiderte der Meister (Awa Kenzo), „die gespannte Bogensehne etwa so halten wie ein kleines Kind den dargebotenen Finger. Es hält ihn so fest umschlossen, dass man sich über die Kraft der winzigen Faust immer wieder wundert. Und wenn es den Finger loslässt, geschieht es ohne den leisesten Ruck. Wissen Sie weshalb? Weil das Kind nicht denkt – etwa so: jetzt lasse ich den Finger los, um dies andere Ding da zu ergreifen. Völlig unüberlegt und unabsichtlich vielmehr wendet es sich von einem zum anderen, und man müsste sagen, dass es mit den Dingen spiele, wenn es nicht ebenso zuträfe, dass die Dinge mit dem Kinde spielen“ (aus „Zen in der Kunst des Bogenschießens“ von Eugen Herrigel, Otto Wilhelm Barth Verlag).

Ich will das angeführte Beispiel weiter verdeutlichen: Wenn wir ein Fußballspiel sehen, sagen wir, 22 Leute spielen mit einem Ball. Der Zenmeister sieht es anders und sagt, der Ball spielt mit 22 Leuten.

Vielleicht macht es so für uns mehr Sinn, und das ist jetzt eine durchaus ernst gemeinte Yoga-Betrachtung: Spielen 22 Leute mit Lebenskraft (und ein Symbol für Lebenskraft ist der Ball), oder spielt die Lebenskraft mit den 22 Leuten?

Spielt die Lebenskraft Yoga?

Noch einmal die Frage neu gestellt und jetzt ganz auf den Yoga formuliert: Üben wir Yoga, um unser Leben zu bewältigen, oder spielt die Lebenskraft mit uns Yoga?

Jedenfalls meinten die alten Inder formt unsere Betrachtungsweise, formen unsere Vorstellungen und Bilder von uns selbst und der Welt mit an unserem Zugang zu uns selbst. Inwieweit daran etwas sein könnte erforscht die westliche Medizin durch die Beobachtung von Placebo– und Nocebo-Phänomenen. Wer meint, nur mit dem Körper üben zu können, ohne seine inneren Bilder und seine Betrachtungsweise mit in das übende Geschehen hineinzunehmen, lässt vielleicht etwas von dem Potenzial der menschlichen Existenz und des Yoga achtlos liegen.