Gibt es Alles oder Nichts?

Der andere Ansatz des Yoga

Der Autor und Essayist Jim Holt versucht dieser Frage nachzugehen und untersucht dabei zeitgenössische wissenschaftliche Weltbetrachtungen wie auch Philosophien des Ostens und des Westens. (Jim Holt: Gibt es Alles oder Nichts, Rowohlt Verlag).

Auch wenn die Frage nach der Welt und ihrer Bedeutung jeden Menschen in irgendeiner Form beschäftig – der Yoga  und die östlichen Philosphien setzen anders an.

Selvarajan Yesudian als Inder weist uns gleich am Anfang seines Buches „Yoga im Lebenskampf“ auf die entscheidende Lücke in der westlichen Vorgehensweise hin: „Der Westen hat in der verflossenen Epoche vergessen, dass es nicht genügt, die Geheimnisse der Physik, Mathematik, Chemie zu erforschen und zu beherrschen, sondern, dass in erster Linie derjenige ergründet und beherrscht werden soll, der diese Geheimnisse enträtselte: Der Mensch selbst!“ (Selvarajan Yesudian: Yoga im Lebenskampf, S. 9 Drei Eichen Verlag).

Auch wenn Yoga keinen Welterklärungsansatz liefern will, sondern in erster Linie ein Übungssystem darstellt: östliche Systeme wie Yoga basieren auf der Überzeugung, dass es Welt immer nur in Abhängigkeit vom jeweiligen Berachter der Welt gibt. D. h. jede Erkenntnis über die Welt ist vor allem eine Aussage über denjenigen, der zu dieser Erkenntnis gelangt. Ganz konsequent zu Ende gedacht wird das in den Büchern von Carlos Castaneda, in denen Don Juan Matus, ein Mann alten indianischen Wissens, es so formuliert: „Jeder, der mit einem Kind in Kontakt komme, erklärte er, sei ein Lehrer, der unaufhörlich die Welt erklärt, bis zu dem Augenblick, wo das Kind die Welt so wahrnehmen könne, wie sie ihm erklärt wird.“ Carlos Castaneda (hier ein Link zur Darstellung seiner Person einen Beitrag des Deutschlandfunks), Reise nach IXtlan, S. 8 Fischer Verlag.

Also führt eine andere Erklärung der Welt zu einer andersartigen Welt?
Zugegeben, für Naturwissenschaftler klingt so eine These anmaßend. Sie ist aber nicht so weit weg von der abendländischen Philosophie Platons und seiner Vorstellung von zutreffendem, unzweifelhaftem Wissen.

Abhyasa und Vairagya

Es soll aber um Übung gehen, und weniger um philosophische Spekulation. Übung (Abhyasa) gibt es aber im Yoga nur in Verbindung mit Loslösung (Vairagya). Und damit haben wir eigentliche beide Prinzipien, das „Alles“ und das „Nichts“, auf die Übungsmatte geholt. Jede Übung hat im Yoga einen Namen: u.a. Dhanurasana (Bogenhaltung, Parvatasana (Berghaltung), Bhujangasana (Schlange bzw. Kobra). Es geht dann im Yoga ja nicht so sehr um Gymnastik, es geht darum, möglichst alle Spielarten des Lebens aufzurufen und zur Entfaltung kommen zu lassen. Kein Aspekt der menschlichen Wahrnehmungsfähigkeit soll brach liegen. In den Übungen des Yoga verwirklicht sich also exemplarisch das „Alles“. Und im Anschluss an jede Übung folgt eine Gegenhaltung, eine Ruhehaltung. Wir lösen uns gedanklich von der Übung, wir ziehen uns ganz zurück. Kein Nachdenken, kein Bewerten. Sondern eben „Loslösung“, Vairagya. Wir verwirklichen das „Nichts“.

Alles und Nichts, es sind vor allem erst einmal Polaritäten in uns. So ist der Ansatz des Yoga. Wenn es „Alles“ gibt, dann ist das „Alles“ auch in uns. Und wenn es das „Nichts“ gibt, dann ist das auch etwas in uns. Sofern dann der Begriff „etwas“ im Zusammenhang mit „Nichts“ überhaupt noch angebracht ist. Gerade im Hatha-Yoga wären dann beide Pole in übender Weise eingebunden: Nämlich Ha-tha* in dem Fall begriffen als  die polaren Aspekte der menschlichen Existenz. Mit dem Ha-Aspekt des Hineingehens in die Übung und damit in die Welt. Und dem Tha-Aspekt* begriffen als dem Sich-lösen von der Übung und damit dem Sich-Lösen von der Welt. Und in der Meditation würde dann die Loslösung auf die für unser Alltagsverständnis kaum vorstellbare Spitze getrieben: Nämlich in Form der vollständigen Unterbrechung der sinnlichen Verbindung zur Welt (ähnlich wie im Schlaf, nur eben bei erhaltenem Bewusstsein).

Vairagya ist stärker

Und Vairagya ist dabei das stärker wirkende Prinzip. Wir können uns noch so sehr in den Übungen verrenken, die Macht zu einem anderen Umgang mit sich selbst entfaltet sich auf der meditativen Seite unseres Wesens. Glaubt man dem Neurowissenschaftler Richard Davidson von der Universität Wisconsin-Madison, so waren die Ausschläge seiner Messgeräte bei Messungen der Hirnströme tibetischer Mönche im Gamma-Bereich („Hirnströme, die vor allem bei kognitiven Höchstleistungen produziert werden“s. Till Hein, Kernspin im Nirvana, DIE ZEIT/Wissen Nr.6/2008) so stark, dass er zunächst glaubte, seine Messgeräte seien kaputt. »Neueste Studien deuten darauf hin«, sagt Ott, »dass regelmäßiges Meditieren die Architektur des Gehirns verändert.« (Zitat von Meditationsforscher Ulrich Ott in dem oben angeführten Artikel. Anmerkung des Autors: Hinweise sind noch kein wissenschaftlicher Beweis). Ob regelmäßige Meditation dem Ausdünnungsprozess der Großhirnrinde im Alter entgegenwirkt wird dabei aber als offene Frage der Wissenschaft angesehen.

Im Yoga geht es um Übung

Übung (Abhyasa) ist deshalb nicht überflüssig, sondern ein komplementäres Element. Aus Yogasicht ist es für den modernen Menschen oft zu schwierig, sich einfach hinzusetzen und zu meditieren. Es fehlt uns dafür schlichtweg meist die Konzentration. Im Wechselspiel zwischen Anspannung und Entspannung, Körperhaltung und Atemachtsamkeit, Exposition in einer Asana (Körperhaltung) und anschließender Ruhehaltung sieht Yoga eine Möglichkeit, sich die nötige Konzentration wieder Zug um Zug zu erarbeiten.

*Dies ist keine indologische oder etymologische Erklärung des Wortes Hatha