Asana – Welt der Einzelteile – Welt der Ganzheit

Asana – das Ende der Welt der Einzelteile

Als naturwissenschaftlich orientierte Menschen haben wir innerlich , wenn wir von der Welt sprechen, immer eine Welt der Einzelteile vor unseren Augen. Wir denken uns die Welt in Atomen. Im Alltagsgeschehen können wir oder müssen wir uns vielleicht sogar so verhalten, als wäre die Welt ein großer Baukasten – und wir Menschen sind diejenigen, die zunehmend damit beginnen, alles gemäß unseren Vorstellungen neu zu sortieren: Die Häuser, die Straßen, die Städte, die Landschaft. Und irgendwann auch den menschlichen Körper. Denn auch der besteht ja letztlich, denken wir, aus Einzelteilen, zusammengefügt gemäß der DNA, also unseren Erbanlagen, die den Bauplan bildet.

Yoga räumt mit dieser Vorstellung auf – jedenfalls wenn wir uns in die Übung begeben. Asana – die Körperhaltung – unterbricht uns in diesem Denken. Schaut man von außen zu, sieht Asana aus wie Gymnastik. In Wahrheit, so schreibt Deshpande in „Wurzeln des Yoga“ Otto Wilhelm Barth Verlag, in seinem Kommentar zu Sutra, II/46, ist Asana eine Geisteshaltung, in der das Kosmische Erlebnis der Ruhe eins wird mit der Stetigkeit des eigenen Körpers. Im Klartext: die Welt und mein Körper werden eins. Anders formuliert: Wir erleben die kosmische Grundschwingung „Körperlichkeit“, die meinem Körper und allen physisch real existierenden Körpern des Universums gemeinsam ist.

Dabei müssen wir dafür nichts machen, wir können es auch gar nicht machen. Aber wir können die oben genannte Grundschwingung in uns entdecken. Es ist daher vielleicht mehr ein existenzielles Erlebnis als eine Geisteshaltung. Mit „Geisteshaltung“ würden wir allzu schnell wieder einen willentlichen Vorgang des Bewusstseins assoziieren. Aber das ist Asana nicht. Vielmehr ist es eben ein unmittelbares Erfahren einer existenziellen Wirklichkeit einer gemäß den Yogasutras alles umspannenden Einheit.

Gehen wir aus von parvatasana, der Berghaltung. Aus dem Lotussitz heraus strecken wir die Arme nach oben und imaginieren uns als Berg. Das ist die aktive Seite der Übung. Die eigentliche Übung aber beginnt, wenn wir in uns das Berghafte entdecken. Hätten wir nichts Berghaftes in uns, wüssten wir nicht was ein Berg ist, könnten wir ihn nicht sehen. Da wir ihn aber sehen, ist auch „Berghaftes“ in uns. Wenn wir in der Übung dann nur noch Berg sind, ist es parvatasana. Die eigentliche Übung ist damit jenseits aller körperlichen Aktivität.

Asana als Prinzip ist in diesem Sinne betrachtet noch mehr: Wir erleben nicht nur einen Teil der Welt (z.B. den Berg), wir erleben uns als die ruhende Grundschwingung des Kosmos. Welt und mein Körper sind eins. Es gibt keine Einzelteile – es gibt nur eine Ganzheit. Und daraus folgt dann der nächste Schritt: Pranayama.

Werfen wir einen Blick auf andere Erlebnisräume der Ganzheit Traumschlaf und Tiefschlaf. Im Traumschlaf mag es auch noch einzelne Bilder geben – aber alles ist im Fluss, und die Dinge gehen ineinander über. Und der Tiefschlaf kennt überhaupt keine Trennung mehr.

Der Einwand, das habe alles nichts mit den Realitäten zu tun, gilt. Aber er gilt nur für die Welt, an die wir uns im Alltag gewöhnt haben. Und selbst wenn es die einzig mögliche Welt wäre, was aus Sicht der Yogins nicht zwingend gegeben ist. Selbst dann ist die Erhaltung der Lebenskraft ohne Traumschlaf und Tiefschlaf nicht denkbar. Selbst wenn wir beide Zustände jenseits der realen Welt ansiedeln, ist ihre Wirkung im Sinne der Erhaltung körperlicher und geistiger Lebenskraft real.

Yoga und Meditation könnte man als Versuch ansehen, die Möglichkeiten der ganzheitlichen Erlebnisräume und Welten zu erweitern.

Wichtig ist: wir sollten unterscheiden, in welche Richtung wir unterwegs sind. Sind wir nach außen unterwegs, scheinen zunächst allein die Gesetze der Welt der Einzelteile zu gelten. Nach innen aber gelten die Gesetze der alles umspannenden Einheit – möglicherweise durchaus mit realen Auswirkungen in die Alltagswelt hinein.

Glaubt man modernen Physikern, ist alle Materie ursprünglich aus einem Urknall hervorgegangen. Folgt man den Yogasutras, ist das Universum auch jetzt immer noch ein Ganzes, einmalig und unabhängig, und sicher nicht die Summe seiner Teile. Die Teile spiegeln das Ganze wieder, so Deshpande, aber es ist absurd zu glauben, deswegen die Realität als eine Summe von Teilen zu betrachten.